Mittwoch, 1. April 2015

"Unruhestifter" Fritz J. Raddatz

Mit meinem Vokabular formuliertt: Der Mann greift an, bietet selber Angriffsflächen und wird auch angegriffen. Und schlägt zurück, greift wieder an, bietet erneut Angriffsflächen, wird wieder angegriffen usw. Das Ganze nicht in Form robotermäßigen Verhaltens, sondern als Gebaren eines, der mit ganzem Herzen, bei vollem Verstand sich immer neue Herausforderungern sucht - und findet, in gesellschaftlich sehr hohen Positionen: Mit 32 stellvertretender Chef-Lektor bei einem großen Ostberliner Verlag, im gleichen Jahr (1953) Staatsexamen an der Humboldt-Universität; er machte Karriere bei Rowohlt, erfand u.a. die rororo-aktuell-Reihe, später war er viele Jahre bei der ZEIT beschäftigt, in leitender Position - und war immer so frei und offen genug, zu kritisieren und kritisiert zu werden - vorsichtig umschrieben. Oder gehorchte er inneren Zwängen - wie jeder andere Künstler, Schriftsteller? Mit dem Ergebnis jedenfalls, bei Rowohlt und bei der ZEIT gefeuert zu werden - nach außen wurde es etwas anders verkauft. Er war mit etlichen großen Künstlern, vor allem Schriftstellern, bekannt bzw. befreundet, u.a. Günter Grass, Enzensberger, Kempowski, Hochhuth, Henry Miller, James Baldwin, Hubert Fichte, Hildegard Knef, Paul Wunderlich uswusw. Sein Buch "Unruhestifter" dokumentiert, wie stolz er auf diese Kontakte war, die durchaus in Feindschaften umkippen konnten. Teilweise reihen die Aufzeichnungen wie in einem who is who Persönlichkeiten des Feuilletons und deren Merkmale auf, gezielt auch Indsikretionen verbreitend. Raddatz war ein verletzter Mensch, sehr talentiert, in höchstem Maße ambitioniert wie auch animierend, d.h. jungen Talenten Mut machend, und er konnte selber austeilen und verletzen - wobei das Buch den Schluß zuläßt, daß er selber zunächst Opfer war: Indem nämlich sein Stiefvater ihn körperlich mißhandelte und von seiner Stiefmutter sexuell mißbrauchen ließ. Es wäre aber zu einseitig, die ganze Persön-lichkeit und persona (lat. für "Maske") des Fritz J. Raddatz anhand dieser Traumata zu psycho-logisieren und somit zu reduzieren. Der Mann hat schließlich viele Bücher publiziert und Artikel für diverse Zeitungen geschrieben, Romane veröffentlicht usw. Die sind mit Traumata allein nicht erklärbar. Raddatz war sehr streitbar, aber seine Geschichte zeigt auch, daß Streitbarsein und Streitkultur in diesem Deutschland eher anrüchige Eigenschaften sind. Auch wenn Raddatz über alle Streitbarkeit hinaus Entertainer-Qualitäten besaß, ansteckende Herzlichkeit und immer wieder gute Einfälle weitergab - er war ein Nestbeschmutzer. Das zählt bei uns nicht als Tugend. Auch Ehrlichkeit zählt in Deutschland nicht als Tugend. Und sich weit, sehr weit aus dem Fenster zu lehnen, lockt Schaulustige an. Weshalb genau einer sich so zeigt und entblößt, interessiert dann wieder kaum noch jemand. Höchstens die BILD und yellow press. Mit denen hatte Raddatz nix am Hut - und er ließ sich auch nicht vom STERN kaufen. Aber Nerven muß der Mann gehabt haben - auch wenn er scheinbar ohne große Ängste immer wieder an den Ästen sägte, auf denen er saß - ob bei Rowohl oder der ZEIT. Er sägte einen Ast ab, fiel - und erkletterte den nächsten Baum. Manche bewunderten ihn. Er wurde geschätzt - aber auch benutzt. Das Übliche halt. Und er hatte die Kraft, sich immer wieder aufzurappeln und weiter zu machen. Zu arbeiten. Am 26. Februar, also vor knapp 5 Wochen, beging der Unruhestifter in der Schweiz in einem "Sterbehaus" von Dignitas Selbstmord. Er wurde 83 Jahre alt. * Dies soll nicht mein letztes Wort über den Mann gewesen sein. Ich fange nämlich gerade erst richtig an, mich für ihn und seine Arbeit zu interessieren. "Unruhestifter" ist knapp 500 Seiten dick und liest sich wie ein Report aus dem Fegefeuer. Von einem, der es ganz genau wissen wollte. Der viel zu geben hatte, aber am Ende vielleicht weniger bekam, als er eigentlich verdiente? Wer kann das schon genau ausrechnen?  Vivat Raddatz!!!  *RS*

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