Samstag, 2. November 2013

Mein Buch des Jahres 2013


Wieviele Bücher las ich in diesem Jahre? Sechzig, siebzig? Eines davon, der neue Essay-Band von Botho Strauß, ragt für mich in besonderer Weise heraus. Beim Überfliegen des Titels „Lichter des Toren“ könnte man denken, es handele sich um ein Buch über Fußball. Wer den Untertitel „Der Idiot und seine Zeit“ liest, versteht, daß nicht von einem Torwart unter Flutlicht die Rede ist. Der Tor ist eine altertümliche, poetische Bezeichnung für einen Verrückten, Narren, nicht ganz Zurech-nungsfähigen. Das Wort Idiot klingt vulgärer, aggressiver, eine handfeste Bezeichnung für einen, der nicht mehr „alle Tassen im Schrank hat“. Ein Wort wie ein Stempel, der jemandem aufgedrückt wird, von dem sich der Normalbürger entschieden abgrenzt. ** Botho Strauß schöpft in seinen Essays und in diese eingestreuten Aphorismen aus einem geradezu enzyklopädischen Wissen über die Geschichte, die Figur des Außenseiters, ausgehend vom griechischen idiotes. Essay heißt „Versuch“. Es geht also nicht um endgültige Klärung der Begriffe und des damit Gemeinten. Es geht auch nicht um Rezepte, Hilfestellungen oder praktische Anleitungen für Außenseiter. Der Autor führt uns in immer neuen Anläufen Denk- und Vorstellungs-Möglichkeiten vor, als Anregung, Vorschläge, sich auf ungewohnte, neue, uns aus dem Gesichtsfeld geratene Aspekte des Daseins einzulassen. Die Erzählstücke und statementartigen Einlassungen wirken befremdlich.  Auf den aber, der sich die Mühe macht, sperrige Sätze und ungewohnte Sichtweisen aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen, sind sie faszinierend. Sie üben einen Zauber aus. Manches verstehe ich nicht sofort. Strauß ist ein Meister der großen Kunst, sich in einer rohen, scheinbar ungeschliffenen Sprache auszudrücken. Das Glattgeschliffene rutscht mir beim Lesen schnell hinunter und hinweg, wird verdaut und ebenso schnell ausgeschieden. Rohe Kost braucht länger, um zersetzt und verdaut zu werden. So geht es mir mit einigen Passagen in dem Buch. Es ist übrigens völlig unspektakulär, ja unscheinbar geschrieben. Mitunter rätselhaft. Nicht in allen Kapiteln. Einiges klingt klar und leicht verständlich. Provokant auch. Sehr provokant: Das lateinische provocare heißt hervorrufen. Fast mühelos –das ist wieder große Kunst- provoziert d.h. ruft der Autor etwas in mir hervor. Ein Alltags-Philosoph, der sich mit Wissenschaft, Kunst und Religion auskennt. Auf Seite 40 lese ich: „Der Geist stirbt bekanntlich eher an zu viel Kommunikation als an zu wenig. Valery war der reflektierteste Mensch seiner Zeit nicht aufgrund eines unablässig regen „geistigen Austauschs“, sondern aufgrund der eiskalten Isolation seines Denken“. Diese Buch „Lichter des Toren“ enthält etliche Stellen und Abschnitte, die mir neue Sicht- und Denkweisen bescheren. So ein Buch lege ich nicht weg, als „abgehakt“, sondern nehme es immer wieder mal in die Hand. Und freue mich an der Poesie, dem Rätselhaften, der Klugheit und mitunter Evidenz.  **  Ausschnitte aus dem Buch fasste Botho Strauß vor einigen Monaten zu einem Aufsatz zusammen, der im SPIEGEL abgedruckt wurde. Dazu drehte ich ein Video (siehe mein Post vom 14.8. (http://www.youtube.com/watch?v=C4Iqz47HH7g)  **  Diederichs-Verlag, 176 Seiten,        **Raimund Samson** 
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