Montag, 29. April 2013

Anarchistische Welten


Ilija Trojanow, bulgarisch-stämmiger Autor, hat ein feines Gespür für Menschen und Situationen. Im August letzten Jahres gab er ein Buch heraus, in dem 15 Autor_innen eine divergierende Band- breite von Denk- und Aktionsansätzen beschreiben. Es gibt kaum eine politische Richtung bzw. philosophische Haltung, die schon fast traditionell auf so viel Vorurteile und Ablehnung stößt wie der Anarchismus. Die Aufsätze von Trojanow, Thomas Wagner, Douglas Post Park, Frans de Waal, Rebecca Solnit u.a. unterlaufen auf ihre Art Ressentiments und Ängste, mit denen Menschen etwas abwehren, das ihnen letztlich ein freieres leben ermöglichen würde. Ich wusste noch nicht, daß es anarchistische Bewegungen auch in Indien gibt. Libertäre Traditionen in Südamerika und den romanischen Ländern sind etwas bekannter – dies kommt u.a. von dem großen Einfluß, den Bakunin einst ausübte. Bei einigen Aufsätzen (David Graeber, Niels Boeing, Uri Gordon) musste ich genauer hinschauen und traute meinen Augen kaum: „Ist das wirklich Anarchismus“? fragte ich mich. Ich merke, daß ich selber Vorurteile habe – aber vielleicht ist dies auch nicht ganz verkehrt. Papier ist bekanntermaßen geduldig. Andererseits halte ich Ilja Trojanow für einen sehr kom-petenten Schriftsteller, und daß Lutz Schulenburg, in dessen Nautilus-Verlag die Text-Anthologie erschien, sich auf dem Gebiet Anarchismus auskennt, dürfte unbestreitbar sein. *** Es führt wohl kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß libertäre Ansätze stets mehr oder weniger de-zentral sind und von örtlichen bzw. regionalen Besonder- und Gepflogenheiten mit-geprägt werden.  Moderner Anarchismus scheint nicht mehr so personalistisch orientiert zu sein wie noch in den 70-er Jahren. „Anarchistische Welten“  bietet reichlich Informationen über aktuelle Strömungen. Es ist ins-gesamt gut lesbar, auch wenn es um kompliziertere Sachverhalte geht, praxisorientiert und nicht dogmatisch. Einiges widerlegt meine Haltung und bisheriges Wissen, aber eines scheint mir auch nach dieser Lektüre unwiderlegt zu sein: Anarchisten sind mutige Menschen. *** 224 Seiten, Nautilus Flugschrift, 16 €uro   **RS**

IBA: Neues Leitthema "Resilienz"


Nachdem sie sie jahrelang leugnete, scheint nun auch bei der Internationalen BauAusstellung  eine wesentliche Wahrheit nicht mehr kaschierbar zu sein: Die Mieten in diesem Stadtteil steigen, und zwar überproportional. Und selbstverständlich auch als Folge der von der IBA  initiierten umfangreichen Maßnahmen, sprich Gentrifizierung. ***  IBA-Mitarbeiter_innen verteilten  einen Flyer. Darauf propagiert die IBA unter dem Stichwort RESILIENZ: „Anpassungsfähigkeiten stärken  Lernprozesse in Gang setzen“.  Selbstkritisch“ gesteht Gesch-führer Uli Hellweg: „Wir haben den IBA-Effekt auf den Wohnungsmarkt unterschätzt. Die Metropole des 21. Jahrhunderts muss Hilfsmittel bereit stellen, wie auch die Schwächsten weiterhin Teil der Internationalen Stadt-gesellschaft bleiben können. Deswegen haben wir zusammen mit der Freien und Hansestadt Hamburg das neue Kernthema Resilienz entworfen“.  Wir haben verstanden! Um einen –gerade für Betroffene-  einfachst zu verstehenden Tatbestand „wissenschaftlich“ zu bezeichnen und zu um-manteln, wird dann gleich mal ein Fremdwort eingeführt. Der Trick ist nicht schlecht: Der Normalbürger wird abgeschreckt, sich mit der Thematik zu befassen. Gleichzeitig dient der Flyer als Alibi. Was nicht mehr totgeschwiegen werden kann, wird nun „zugegeben“. Das ist clever, überzeugt mich aber nicht. *** Parallelen zur „Akademie der Nachbarschaften“ sind unverkennbar.  Statt tatkräftig und glaubhaft die Bedingungen für gute Nachbarschaft zu verbessern, wird eine wissenschaftliche Ebene angestrebt und „experimentiert“ und „geforscht“. So auch jetzt: „Wir experimentieren: mit neuen Wohnformen ...“ und „Wir erforschen:  Welche individuellen Fähigkeiten ermöglichen die Verbesserung des Selbstwertgefühls ...“ lese ich. Mir scheint: Weder bei der „Akademie der Nachbarschaften“ noch beim neuen „Leitthema Resilienz“ spielen Sorge, Mitgefühl oder Solidarität eine Haupt-Rolle, sondern eher Eitelkeit, Sicherheitsdenken (die eigene Karriere, ein Flyer als Alibi) und, nennen wir es vulgär-deutsch beim Wort: Klugscheißerei. Die IBA und deren Verantwortliche im Rathaus haben gut klugscheißen. So funktioniert es immer. Vollendete Tatsachen schaffen, anschließend klugscheißen. Danke Hansestadt Hamburg, danke Deutscher Staat. *** Sehenden Auges werden krasse Fehler gemacht, Seilschaften bedient, die Macht abgesichert. Leidtragende sind die einfache Bevölkerung, der „Kleine Mann“. Ausgerechnet in Wilhelmsburg will die IBA mit dem hochwissenschaftlichen Begriff „Resilienz“ punkten. Papier ist bekanntermaßen geduldig. ***  Wer sich näher mit dem Thema „Resilienz“ befassen will, klicke auf die aku-Website  Achtung Fake! Eine mir wohlgesonnene Leserin wies darauf hin, daß ihrer Ansicht nach der Resilienz-Flyer eine Fälschung sei. Tatsächlich findet sich kein entspr. Papier
auf der offiz. IBA-Homepage. Gut gemachter Fake, oke! Ich habs nicht gemerkt ! 
und speziell: http://akuwilhelmsburg.blogsport.eu/2013-03-iba-unter-druck-resilienz/  ***RS***  

Sonntag, 28. April 2013

Kreis Wesel - Jahrbuch 2013


Ich lebe seit 39 Jahren in Hamburg, habe mich teilweise assimiliert, Freunde gefunden – und freue mich immer noch über Lebenszeichen vom Niederrhein, wo ich aufgewachsen bin. Bis 1966 lebte ich in Kalkar –einigen Leser-_innen als am Rhein liegendes Städtchen bekannt, wo einst der „Schnelle Brüter“ gebaut wurde. Dann zog meine Familie nach Xanten, 14 km von Kalkar entfernt und zum Kreis Wesel gehörend. Seit 1979 erscheint alle 12 Monate das Kreis Wesel Jahrbuch. Die aktuelle Ausgabe beinhaltet einen Bericht über eine von Angehörigen initiierte Suche (2012) nach einem 1945 in Spellen (bei Wesel) vermissten holländischen Staatsbürger. * Hanns Dieter Hüsch, der bekannte Kabarettist (1925-2005), stammte aus Moers, das 1974 dem Kreis Wesel „zugeschlagen“ wurde. Peter Hostermann schrieb einen Bericht über seltenes Hüsch-Film-Material im Stadtarchiv Moers. * Heiner Stapelkamp widmet 10 Seiten dem 100. Jubiläum des St. Vinzenz-Hospitals in Dinslaken. Der Artikel ist, wie die anderen auch, reich bebildert (26 teils farbige Fotos und Grafiken allein für diesen Bericht!). Ein Bild erkenne ich sogar wieder, obwohl ich nie in dem Krankenhaus war. Es zeigt ein Porträt von Schwester Euthymia, einer 1955 verstorbenen und wie eine Heilige verehrten Ordensschwester. * Besonders gern lese ich Berichte über dörfliche Gemeinschaften, niederrheinische Landschaft und Naturschutzgebiete im Kreis Wesel. Auch dieses Jahrbuch enthält wieder zahlreiche entsprechende Artikel („Die Höcht“ 31-36, „Der Hühnerpasshof in Sonsbeck“ S.66-70, „Die Wunderstute Bandola“ 71-76, „Ein herbstlicher Gang durch die Xantener Hees“ 112-118, „Die häufigsten Schwimmenten am Niederrhein“ 119-127, „Die Waschol“ 128-132, „Die ‚Alte Lippe’ in Wesel-Obrighoven“ usw.) im Wechsel mit Berichten zu den Themen Politik und Geschichte: „Von Dinslaken nach Theresienstadt und zurück (Jüdinnen in Dinslaken nach 1945)“ S. 37-42, „Wir haben uns rückhaltlos zum Führer zu bekennen…“ – über eine Schule in Neukirchen-Vluyn S. 55-65  usw. ***  Mehr als 30 Berichte auf insg. 256 Seiten, isbn 978-3-87463-514-1, Verlag Fachtechnik + Mercator-Verlag, Duisburg   **RS**    

Samstag, 27. April 2013

Montags-Demo Hamburg : Unflätige Worte

In regelmäßigen Abständen wird von Moderatoren der Montags-Demo (Mönckebergbrunnen) betont, daß „Alle außer Faschisten“  ihre Meinung sagen oder Statements abgeben dürfen, per Mikro. Neu ist der Hinweis Wir wollen keine unflätigen Wortbeiträge“.  Was haben wir uns unter „unflätigen“ Worten vorzustellen? Kraftausdrücke wie „Scheiße“, „Fuck“, „Arsch-löcher“, „Heinis“, „Pißnelken“, „Schweine“, „bürokratisches Gesocks“, „Wixer“, „Arschkriecher“ usw? Ich war jetzt gut drei Monate bei den Montags-Demo fast jedesmal dabei. Ich erlebte zwar noch keine „Faschisten“ dort, aber man/Frau will sich offenbar unbedingt als „antifaschistisch“ profilieren.  Kommen deshalb mehr Leute? Was die Abwehr und Furcht vor „unflä-tigen WortWortbeiträgen“ betrifft, so kann ich nur einen erstaunlichen Mangel an Empathie (Einfühlungsvermögen) feststellen. Jeder, der sich mit den Problemen Arbeitslosigkeit, HartzIV, Unterbezahlung, 1€-Jobs befasst, weiß, daß es hier um Menschen geht, die enorm unter Druck stehen. Dieser Druck, der zu Verzweiflung, Wut, Resignation führen kann, muß erst einmal heraus. Das ist das Erste. Die Sprache ist auch ein Ventil, kann die Funktion eines Abflusses, Schlauchs, Rohrs haben. Daß etwas rauswill bzw. rausmuß, bei diesen Verhältnissen, bei diesen Triezereien, Gedemütigt- und am ausgestreckten Arm gehalten werden, Ungerechtigkeiten, mit denen HartzIV-Empfänger_innen ständig konfrontiert werden, ist eigentlich sonnenklar.  Die Forderung, keine „unflätigen Wortbeiträge“ abzuliefern, ist quasi eine Zensur. Es kommt einer Aufforderung gleich, die Sprache zu beschneiden und sich an die Gegend, in der die Montags-Demo stattfindet, anzupassen. Shopping-Möglichkeiten für Gut- und Besser-Verdienende. Ich bin selber „arbeitslos“. Inzwischen habe ich den Eindruck, daß ein Großteil der Montags-Demonstranten sich in die Situation von Arge- und HartzIV-Empfängern nicht hinein-versetzen kann. Wahrscheinlich sind sie selber nicht arbeitslos und wissen nicht, wie es IN einem HartzIV-Empfänger aussieht. ** Beim letzten mal waren wir nur noch ca. 10 Leute. Die Hälfte oder mehr als die Hälfte davon MLPD-Leute (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands).  Im Grunde habe ich nichts gegen sie, einige finden ich sogar sympathisch; sie nehmen ein demokratisches Recht wahr und sorgen für Logistik (Mikrofon-Anlage). Ich habe jedoch etwas dagegen, daß Wortbeiträge um ihren emotionalen Ausdruck beschnitten werden. Ich bin für das Freie Wort. Und was frei ist, bestimmt nicht ein Moderator, sondern der-die Redner_in selber. „Unflätige Worte“ sprich Obszönitäten können befreiend wirken.  ** Ich bin sehr enttäuscht. Es gibt offenbar –was mir anfangs nicht klar war- eine Hierarchie bei der Organisation der Hamburger Montags-Demo. Ein MLPD’ler sprach einmal von „Streitkultur“ – was ich sehr gut fand, sozusagen als Basis für Diskurse. Inzwischen glaube ich nicht mehr, daß der Hinweis auf „Streitkultur“ ehrlich und echt gemeint war.  *** Dies ist mein ca. 15. Blog zum Thema Montags-Demo. Bis heute erfuhr ich keinerlei Reaktionen auf meine Statements. Das ist sehr wenig bei einem Anspruch auf „Streitkultur“. Andererseits wurde mir schon das Mikro aus der Hand genommen.  Ich bin sehr enttäuscht von der Klein-kariertheit einiger Mo-Demonstrantinnen. Hier findet keine Öffnung statt in einen breiteren Diskurs, bei dem Passanten, Neugierige, Andersdenkende einbezogen werden. Hier entwickelt sich nicht eine breite Bewegung, sondern eine Sekte.  Um Passanten, Neugierige usw. einzubeziehen bedarf es rheto- und animatorischer Fähigkeiten. Polit-Phrasen reichen nicht aus.   **RS**   

Freitag, 26. April 2013

Veranstaltungs-Hinweis

Nächsten Dienstag, den 30.4., gibt es die 15. Ausgabe von WortKunst-Poetry. Ort: WESTEND, Vogelhüttendeich 17, Beginn: 19 Uhr 30. Wer möchte, kann auch schon zum Kunstbüro-Abendes-sen kommen, am gleichen Ort ab 18 Uhr. *** Beim WortKunst-Poetry kann jede/r Teilnehmer_in bis zu 10 Minuten eigene Texte vortragen, frei sprechen, performen, mit Musibegleitung - wie auch immer ... ** Der Eintritt ist frei. Beim Abendessen werden die Kosten umgelegt - pro Person ca. 3 €.    **RS**  

Donnerstag, 25. April 2013

Bakunin und der Kirchentag


Noch wenige Tage bis zum 34. Ev. Kirchentag in Hamburg. Nicht nur die Hansestadt allgemein, sondern Wilhelmsburg speziell wird von frommen oder frömmelnden Menschen überflutet wer-den.  Denn: Kirchentagsbesucher  bekommen, soweit sie ein Ticket haben, einen Tag freien Eintritt bei der igs (Internationalen Gartenschau). ** Was Religion betrifft, halte ich es mit dem frühen Anarchisten Bakunin. Der war zunächst tief religiös, bevor er sich zu einem scharfen, unnach-giebigen Kritiker weltlicher wie kirchlicher Macht wandelte. ** Jeder soll seine Religion ausüben, die er braucht. ABER im Zusammenhang  mit diesem 34. Ev. Kirchentag ist die Kungelei zwischen Staat und Kirche  nicht zu übersehen. Es geht um Macht, DAFÜR wird eine fromme Fassade aufgebaut. Bei (erwarteten) 100.000 Kirchentagsbesuchern würden der IGS bei 21 € Eintritt 2,1 Mill. € durch die Lappen gehen. Selbst wenn nur die Hälfte der Kir-tag-Besucher_innen zur igs käme,  wäre es immer noch 1 Mio. €.. ** Der Kirchentag wird stattfinden wie geplant. Die igs-SPD wird Geld verschenken wie geplant.  ** Schauen wir uns die Kungelei zwischen kirchlicher und staatlicher Macht genau an!   **RS**