Sonntag, 10. März 2013

Mobbing (2) - Klärungsversuch


Ich erhielt eine Antwort. Und einige Wochen später kam es zu einem Treffen, genauer: zu einem Gespräch unter acht Augen. Die Runde bestand aus Frau Schwieger, meinem direkten Vorgesetzten Guy „Lucky“ Stallmundt, Frau Kringel, Bereichsleiterin Ost, und mir.
Ich war sehr darauf bedacht, mir keine Blöße geben. Mit 60 darf man sich keinen Fehler erlauben. Auf keinen Fall zu locker auftreten! Deutlich sprechen ...
Meine Zahn-Prothese klebte perfekt, ich war frisch rasiert, mein Hemd und mein Schlips waren farbig aber unaufdringlich, meine Mütze saß gerade. Und ich auch.
Es gab etwas zu trinken und Kekse. Ich entschied mich für Mineralwasser.
Frau Schwieger kam schnell zur Sache.
„Herr Stallmundt“, dozierte sie, „wie kamen Sie nur auf die Idee, eine vertraulich gemeinte Äußerung weiter zu geben? Hier liegt deutlich eine Führungs-Schwäche vor. Sie scheinen ein wichtiges Prinzip unserer Firma noch nicht begriffen zu haben. Ich möchte nicht, daß so etwas noch mal passiert. Das gibt es bei uns nicht.“
Ich fand Lucky als Chef einigermaßen oke, auch wenn ich nicht mit allem einverstanden war. Nun tat er mir beinahe leid. Er war knapp 30 Jahre jünger als ich, wollte noch hoch hinaus und wurde in meiner Gegenwart, das heißt im Beisein eines Untergebenen, zusammengestaucht.
„Kann ich mich darauf verlassen, daß so etwas nicht wieder geschieht?“
Lucky antwortete leise und bedächtig. Er bestätigte die Einschätzung unserer Geschäftsführerin, daß er einen schweren Fehler begangen habe.
Einen Fehler machen – tut jeder. Aber einen Fehler „begehen“ – das war bereits ein Delikt. 
„Und  nun zu Ihnen, Herr Jähsinn.“ Frau Schwiegers rehbraune Augen fixierten streng mein Bril-lengestell. Das war nicht mehr Pipi Langstrumpf, die beim Termin mit den „Neuen“ ihren Kopf durch den Türspalt geschoben hatte.  Eine mächtige Frau saß mir gegenüber, Herrin über 800 Mitarbeiterinnen und  Mitarbeiter. 
Frau Kringel saß mit ausdruckslosem Gesicht, einer Sphinx ähnlich, rechts von mir.
„Wieso glauben Sie eigentlich, daß Sie in unserer Einrichtung mit Ihrer Arbeit richtig liegen?“
Frau Schwiegers feine Nasenflügel bebten vor Empörung.
Ich wollte ihren Satz nicht auseinander pflücken. Eigentlich hatte ich mit einer vagen Entschuldigung gerechnet oder zumindest heimlich darauf gehofft. Jeder kann sich mal irren und einen Menschen falsch einschätzen. Und man kann sich auf lustige Art dafür entschuldigen. Ohne das Gesicht zu verlieren. Ist doch menschlich, mal etwas zu streng zu sein. Nun war klar, daß es kein befreiendes Lachen geben würde. Ich musste bis zu Ende schauspielern. Ich konnte doch nicht sagen, daß ich die Situation unerträglich und zum Kotzen fand. Es handelte sich hier um Mobbing, um den Versuch, mich sozusagen von höchster Warte aus von meinem Arbeitsplatz wegzuekeln.
Ich riß mich zusammen.
„Frau Schwieger, ich meine, daß ich hier genau richtig bin. Ich kann mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen. Er ist mir sozusagen auf den Leib geschneidert. Die ganzen Umstände. Schon vor mehr als 30 Jahren sammelte ich Erfahrungen mit geistig und körperlich behinderten Menschen. Ich arbeitete in geschlossenen Häusern, damals als es die große Anstalt noch gab. Ich studierte im Hauptfach Pädagogik, im Nebenfach Psychologie, und legte mehrere Urlaubs-Semester ein, um den Kopf frei zu bekommen von Wissenschaft und Theorie. Ich machte die Erfahrung, daß es mir leicht fällt, Kontakt zu geistig Behinderten aufzubauen.“
Frau Kringel sagte nichts.  Sie saß bewegungslos, schien nicht mal zu atmen.
Lucky nippte an seinem Kaffee.
„Und weshalb haben Sie nach dem Studium eine andere Laufbahn eingeschlagen, wenn Ihnen der Kontakt mit behinderten Menschen, wie Sie behaupten, leicht fälllt?“
Ich nahm einen Schoko-Keks.
Was für eine Situation. Musste ich mich rechtfertigen, weil ich nach dem Studium fünfzehn Jahre als Puppenspieler durch die Lande gezogen war?
Naja“, erwiderte ich. Ich wollte cool wirken; bloß nicht emotionalisieren. Zwischen mir und einem tiefen Abgrund lag nur eine Winzigkeit. Und ich war nicht allein mit der Geschäftsführerin. Sechs Ohren hörten mit.
Es hatte eben „einige Jahre gedauert“, versuchte ich zu erklären, um zu meiner eigentlichen „Berufung“ zu finden, nämlich die Betreuung von Außenseitern und Behinderten. Ich flunkerte ein wenig. „Berufung“ war ziemlich hoch gegriffen. Aber irgendwo stimmte es auch. Ich habe tatsächlich feine Antennen für Außenseiter, auch für geistig und körperlich behinderte Menschen. Ich spüre in Nullkomma-nichts, wie die Machtverhältnisse sind.
Ich möchte meine Leser und Leserinnen nicht mit der vollständigen Wiedergabe des Gesprächs langweilen. Nur so viel noch: Frau Schwieger versuchte mich darauf festzulegen, daß ich Künstler sei und in der Firma Kunst längst nicht mehr die Rolle spiele, die sie „womöglich vor 30 Jahren“ innehatte. Sie hatte wohl mitbekommen, daß ich als Maler und Bildhauer mich mit dem Thema Rollstuhl beschäftige. Ich gab zu bedenken, daß ich Diplom-Pädagoge sei mit dem Schwerpunkt „Außerschulische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung“ und mich aufgrund persönlicher Fähigkeiten, ganz abgesehen von meiner wissenschaftlichen Qualifizierung, gut fühle an meinem Arbeitsplatz und meine Tätigkeit gerne verrichte.
Es gelang mir nicht, die Gedanken unserer Geschäftsführerin zu lesen. Wollte sie einen Wutanfall bei mir erzeugen? Sie löste die Runde nach einer Dreiviertelstunde auf und entließ mich mit den Worten:  „Na, dann zeigen Sie mal, Herr Jähsinn, daß Sie bei der AGSM am richtigen Ort sind“.   
  Die Namen der Personen sowie der Firma wurden geändert.          *Robert Jähsinn*
                                                                                       Fortsetzung folgt.
                  

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