Freitag, 30. November 2012

Todesflüge


In Buenos Aires beginnt, mehr als 30 Jahre nach dem Putsch der Militärs, das dritte und bisher größte Verfahren gegen Angehörige der ESMA, der ehem. argentinischen Marineschule, die Folterzentren unterhielt und zigtausende Menschen umbrachte bzw. spurlos verschwinden ließ. Nun geht es auch um die „vuelos de la muerte“ (Süddeutsche Zeitung), um „Todesflüge“, bei denen betäubte, lebende Gefangene aus Hubschraubern ins Meer geworfen wurden. Einige Leichen wurden später an der Küste angeschwemmt, viele verschwanden für immer. Einer der Angeklagten ist Julio Poch, der nach seinen Einsätzen für das argentinische Militär für die hol-ländische Linie Transavia flog, „ehe er 2009 entdeckt und an Argentinien ausgeliefert wurde“ (SZ). Welchen Strafen haben diese Helfer zu erwarten? Haben sie ein Schuldbewußtsein, zeigen sie Reue? * ich erinnere mich, daß die BRD sich mit Kritik an den argentinischen Mili-tärs vornehm zurückhielt. Die Militärs wollten das Land von der Subversion durch linke und linksradikale Parteien und Gruppen säubern. Dieses Feindbild war dem der BRD-Politik nicht unähnlich. Das südamerikanische Land war zudem ein wichtiger Handelspartner. So unternahm Bonn 10 Wochen lang nichts, um die von den Militärs gefangen gehaltene Deutsche Elisabeth Käsemann frei zu bekommen. Sie wurde 1977 gefoltert und ermordet; ein sehr informativer und nachdenklich stimmender Film zu diesem Fall ist im Internet zu sehen unter: http://www.youtube.com/watch?v=TvAIdOz7npg. * 1978 fand die Fußball-WM in Argentinien statt, mit deutscher Beteiligung. Offiziell hielt man sich raus, trennte fein säuberlich zwischen Politik und Sport. Ich bewunderte den deutschen National-Torwart Sepp Meier, der öffentlich darauf hinwies, daß die WM unter einer Militär-Diktatur stattfand. Er rettete in meinen Augen die Ehre des deutschen Fußballs, er war ein Held für mich.      *R.S.* 

Mittwoch, 28. November 2012

Nochmal Hadayatullah Hübsch


Hadayatullah starb am 4. Januar 2011. Ich habe noch einige Brief und Texte von ihm, die ich auf diesem Wege veröffentlichen möchte. H. hatte ein geistliches Amt in der Reform-Bewegung  Ahmadiyya Muslim Jamaat inne. Er war ein gläubiger und sehr gebildeter Muslim, der jederzeit zum Dialog mit Andersgläubigen bereit war. Umgekehrt hatte er mit Vorurteilen zu kämpfen. Ende 2009 schickte er mir einen Brief, weil ein Veranstalter in Wilhelmsburg eine Lesung mit ihm absagte. „Lieber Raimund“, schrieb Hadayatullah, „Dein Bekannter von der „stadtmission“, der die Lesung mit mir veranstalten wollte, hat mir vor ein paar Tagen eine email geschickt, in der er die Lesung absagte. Die Begründung habe ich nicht genau verstanden, irgendwie passt irgendwelchen Leuten meine Religion nicht. Dabei ging es bei der Lesung doch um Beat und nicht um Predigten“.  Damals hatte ich für H. eine Lesung im Wilhelmsburger WESTEND vereinbart (das zur Stadtmission gehört). Der damalige Leiter des Westend, A.D., bekam jedoch plötzlich kalte Füße, weil er Ärger mit Moslems befürchtete, die nicht zur Ahmadiyya-Richtung gehörten. Als Ausweichort versuchte ich das Alter-nativ-Cafe „sweet home“  zu gewinnen. Die Inhaberin lehnte jedoch ab, weil der Ahmadiyya-Islam „frauenfeindlich“ sei. So führten wir die Lesung in meiner Werkstatt durch. * Hadayatullah war ein Dichter und Kämpfer, der sich im Alltag für seine Ideen, Ziele und die ihm anvertrauten Menschen einsetzte. Zur Not auch vor Gericht. Er schickte mir die Kopie eines „Versäumnis-Urteils“ des Landgericht Frankfurt. In dem Rechtsstreit der Ahmadiyya Muslim Jamaat und Hadayatullah H. gegen die Verlags-Gruppe B.Z.Ullstein GmbH wurde letzterer untersagt, weiterhin zu behaupten, a) H.H. propagiere die „leichte Züchtigung der Frau“  und b) Ahm.M.J. befürworte die körperliche Züchtigung der Frau“. * Hadayatullah hat die Ablehnung, erst durch eine ev.-christliche Einrichtung, dann durch ein sog. „Alternativ“-Cafe gekränkt. Ich persönlich empfand die Ablehnungen als Ausdruck von Opportunismus und Scheinheiligkeit. Ich meine: So etwas kann heutzutage in diesem Stadtteil jederzeit wieder passieren. Die meisten Leute und staatliche Institutionen sind nicht in der Lage, von außergewöhnlichen Menschen Impulse, Ideen und Ratschläge anzunehmen.  Was nicht mit dem Mainstream kompatibel ist, wird ausgegrenzt. *
Wie verschieden, fast schon gespalten, die zwei Seiten Hadayatullahs waren, kommt m.E. in dem folgenden Gedicht zum Ausdruck, mit dem er weder missionieren noch religiöse Diskurse initiieren möchte.  Es wurde  Für Florian und Bouchra am 20.2.2007 um 18 Uhr 45 geschrieben und heißt

In der Bar
 Die roten Ledersitze schwitzen,
Countdown-Song: „Paß auf, die Welt
Ist hinter dir her“ und schwer
Fallen die Tropfen in die Gläser
Augen toter Junkies zittern in den
Aschenbechern dieser erloschenen
Sonnen das Kopfsteinpflaster draußen
Mürbe getreten von heiligen Barbaren,
Im Schirm das Jaulen einer verzogenen
U-Guitarre, deren Saiten Salzstangen
Gleichen, wir machen die Rechnung
Ohne den Schenken, wir trinken das
Blut, das aus unseren Füllfederhaltern
Gemolken, wie Gäste, in deren Gliedern
Rastlosigkeit tätowiert, bis alle
Herzen einen Knacks haben, oh Funke!
                                         Hadayatullah Hübsch
                                                                                                                That’s BEAT!    *R.S.*    

Wilhelmsburg: SCHLIMM ! (2)


Christoph von Savigny, Redakteur des Wilhelmsburger Wochenblatts, versteht es, auf die Tränendrüse zu drücken. Echt SCHLIMM, was er diesmal herausgefunden hat. Unsere Deichwacht, ohne die der Stadtteil längst Wasserwüste wäre, ist angeblich völlig verarmt. Es gibt für sie „Keinen Cent“ (Überschrift). Beim Lesen des Artikels wird dieser herzerweichende Tatbestand dann 1 bisserl relativiert: Für die Jubiläumsfeier zum 50-jährigen Bestehen bekam die Deichwacht bisher „nur“ insg. 2000 € von den Bezirksversammlungen Harburg und Mitte. Es sollen 190 Personen verköstigt werden. Da bleiben „nur“ gut 10 € pro Person. Dafür bekommt man heutzutage ja kaum noch ne trockene Scheibe Brot, ODER?! Bei den Lebensmittelpreisen! Ach ja, „eine Kapelle“ soll auch noch gemietet werden. Musik und so. „Wie es aussieht, müssen wir den Kaffee selbst bezahlen“, meint der Ortsbeauftragte der Deichschutzeinrichtung. SCHLIMM! Mir kommen die Tränen; heiß rinnt es mir die Backe hinunter... Vor allem, wenn ich weiterlese, daß die rund 5o Helfer alle „ehrenamtlich“ seien; und für ihre Einsätze (z.B. regelmäßige Katastrophen-Übungen) „nur“ 2,05 € pro Stunde bekommen - die demnächst auf 3 € aufgestockt werden. „Ehrenamtlich“??? ...  Klar bin ich auch für die Deichwacht, die nun Sponsoren sucht. Ich hab ne Idee. Als erstes würde ich den Wochenblatt-Autor C.v. Savigny um eine Spende bitten. Schließlich verdient er an seinem Artikel bares Geld. Sozial wie er ist, gibt er bestimmt etwas ab. Zweiter Tip: Bei der Honigfabrik fragen. Die haben jede Menge Knete. Drittens: Beim Bürgerhaus vorstellig werden. Die gehören wie u.a. die HoFa zu den privilegiertten Einrichtungen auf der Elbinsel. Auch wenn die B.H.-Leiterin gern so tut, als müsste sie betteln gehn. Das Wochenblatt stellte vor einiger Zeit eine Menge Platz zur Verfügung, um auf die angeblich existenzbedrohende Situation der Einrichtung hinzuweisen. Und siehe da: das Jammern half! * Und wenn alles nichts nützt, darf sich der Ortsbeauftragte des Deichschutzes gerne bei mir melden. Dann kann ich ihm erzählen, mit welchen Spenden- und sonstigen Geldern ein seit 23 Jahren in diesem Stadtteil aktiver Verein auskommen muß. Ich wette, das interessiert den Mann garnicht.  * Mitte Dezember erscheint die nächste Ausgabe des W.I.R. (Wilhelmsburger Insel-Rundblicks). Die werden auch nen dollen Artikel bringen, schätz ich mal.   *RS*     

Matussek in Wilhelmsburg (mittenmang)




Das war, endlich wieder mal, ein Nachmittag nach meinem Geschmack. Matthias Matussek las im mittenmang und stellte sein neues Buch „Die Apokalypse nach Richard – Eine festliche Geschichte“ vor. Sehr gekonnt der Vortrag, literarisch ausgetüftelt die Story: Eine Kreativ-Reise durchs Genre der Weihnachts-Erzählung, gut erfunden mit (starken) autobiografischen Bezügen. Am Tisch auf dem kleinen, schwarz ausstaffierten Podium im Restaurant am Stübenplatz saß ein Profi, dem es sichtlich Vergnügen bereitete, aus seinem Selbstgeschriebenen vorzutragen. Er tat dies mit kräftiger Stimme, immer wieder mal mit einer Hand ausholend, emphatisch. Meine Augen waren 83,7 %-ig beim Vortragenden und zu ca. 11,26 % bei meinem Nachbarn Dietmar, der mit flinker Hand den Dichter porträtierte. Dadurch wurde alles noch intensiver und spannender. * Ich war ein wenig auf das Katholische fixiert (jemand sagte mir, der Autor sei engagierter Kathole), aber um den rechten Glauben drehte es sich gar nicht. Es ging wohl um ein gewichtiges Thema, das jedoch mit viel Humor und guter Laune gestaltet wurde. * Witzig war auch, daß von der Hintergrund-Deko: Große schwarze Buch-staben, die das Wort mittenmang bildeten, nach und nach Teile umkippten, die beiden t’s und das e nämlich. Das rührte wohl vom Temperament des Vortragenden, der die Sprache selber zum Kippen brachte.  * Ich wünsche mir für Wilhelmsburg mehr solcher highlights. Hier ist künstlerisch und kulturell tiefste Provinz. Daran ändern auch die Millionen von IBA und igs nichts. Einzelne Menschen sind’s, von denen Impulse und Ideen ausgehen. + zu denen zählt auch Buchhändler Lüdemann, der den Nachmittag organisierte.           **R.S.**  

Dienstag, 27. November 2012

J. Dahmer und T. Bundy: Nichts Neues vom SPIEGEL


Angeblich stehen Forscher kurz vor der Entdeckung des Schlüssels zum Verständnis und zur Be-handlung von Psychopathen. Autor Thadeusz benutzt die Beispiele der Massenmörder Jeffrey Dahmer  und Ted Bundy, um auf drei Seiten im neuen SPIEGEL nichts Neues über die Genese von Psychopathen zu sagen. Bereits 1913 erschien Karl Jaspers seinerzeit bahnbrechendes Buch „Allgemeine Psychopathologie“. Seither haben tausende Psychiater, Kriminologen, Pädagogen, Geistes- wie Naturwissenschaftler, Persönlichkeitsforschung betrieben und zweifellos wichtige Tatbestände und Kausalitäten untersucht. Auch die Bedeutung des (Augen-)Kontakts zwischen Mutter bzw. primärer Bezugsperson und Kind bzw. Säugling ist seit vielen Jahrzehnten bekannt, mithin psychologische Binsenweisheit. Persönlichkeitsstörungen und –defekte von Serienkillern wie Dahmer und Bundy über Begriffe wie „dissozial“ oder „Psychopath“ erklären zu wollen, ist wenig hilfreich. * Interessant wäre, den Ansatz des austral. Psychologen Dadds mit den Mitteln der neurophysiologischen Forschung fortzuführen und zu untersuchen, inwieweit bestimmte  Mängel und Verhaltensdefizite der primären Bezugspersonen gehirnorganische Änderungen bei Säuglingen und Kindern hervorrufen. Alles andere, d.h. eine nicht naturwissenschaftliche Forschung dreht sich im Kreis und wiederkäut nur längst bekannte Tatsachen.  *  Autor Thadäusz nimmt in oberflächlichster Weise zwei extrem gefährliche Persönlichkeiten als Aufhänger + verschweigt  bekannte Tatsachen, mit denen man die Verbrechen ein Stück verstehen (was nicht „akzeptieren“ bedeutet) könnte. Ted Bundy erfuhr mit Anfang 20, daß seine angeblich ältere Schwester in Wahrheit seine Mutter, seine angebl. Eltern in Wahrheit Großeltern und seine angebl. Geschwister in Wahrheit höchstens Halb-Geschwister bzw. noch weiter entfernt verwandt mit ihm waren. So etwas kann kein Mensch auf dieser Erde unbeschadet verkraften. Entweder er wird depressiv oder „geisteskrank“. Dies würde wohl den meisten so gehen. Oder – im Fall Bundy – er reagiert aggressiv, mit  Rache-Bedürfnis. B. hatte niemanden, der ihm half, das neue ungeheuerliche Wissen zu verarbeiten. Diese extreme Erfahrung reicht nicht, um die Killer-Karriere B’s schlüssig zu erklären. Sie ist aber EIN Mosaikstein bzw. EIN Schlüssel zum Verständnis. Jede menschliche Persönlichkeit, auch die eines Massenmörders, ist viel zu komplex, als daß sie mit einer mathematischen oder chemischen oder sonstigen Formel aufgeschlüsselt werden könn-te.  SPIEGEL-Autor Thadeusz hingegen suggeriert mit seinen Ausführungen, es gebe solche Schlüssel oder Formel.   *R.S.*