In Buenos Aires beginnt, mehr als 30 Jahre nach dem
Putsch der Militärs, das dritte und bisher größte Verfahren gegen Angehörige
der ESMA, der ehem. argentinischen Marineschule, die Folterzentren unterhielt
und zigtausende Menschen umbrachte bzw. spurlos verschwinden ließ. Nun geht es
auch um die „vuelos de la muerte“ (Süddeutsche
Zeitung), um „Todesflüge“, bei denen
betäubte, lebende Gefangene aus Hubschraubern ins Meer geworfen wurden.
Einige Leichen wurden später an der Küste angeschwemmt, viele verschwanden für
immer. Einer der Angeklagten ist Julio Poch, der nach seinen Einsätzen für das
argentinische Militär für die hol-ländische Linie Transavia flog, „ehe er 2009 entdeckt und an Argentinien
ausgeliefert wurde“ (SZ). Welchen Strafen haben diese Helfer zu erwarten?
Haben sie ein Schuldbewußtsein, zeigen sie Reue? * ich erinnere
mich, daß die BRD sich mit Kritik an den argentinischen Mili-tärs vornehm
zurückhielt. Die Militärs wollten das Land von der Subversion durch linke und linksradikale Parteien und Gruppen
säubern. Dieses Feindbild war dem der BRD-Politik nicht unähnlich. Das südamerikanische
Land war zudem ein wichtiger Handelspartner. So unternahm Bonn 10 Wochen lang
nichts, um die von den Militärs gefangen gehaltene Deutsche Elisabeth Käsemann
frei zu bekommen. Sie wurde 1977 gefoltert und ermordet; ein sehr informativer und
nachdenklich stimmender Film zu diesem Fall ist im Internet zu sehen unter: http://www.youtube.com/watch?v=TvAIdOz7npg.
* 1978 fand die Fußball-WM in Argentinien statt, mit deutscher Beteiligung.
Offiziell hielt man sich raus, trennte fein säuberlich zwischen Politik und
Sport. Ich bewunderte den deutschen National-Torwart Sepp Meier, der öffentlich darauf hinwies, daß die WM unter einer
Militär-Diktatur stattfand. Er rettete in meinen Augen die Ehre des
deutschen Fußballs, er war ein Held für mich. *R.S.*
Kulturjournalismus, in Bildern denken, Gegenöffentlichkeit, Experiment, Schutzengel
Freitag, 30. November 2012
Todesflüge
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Mittwoch, 28. November 2012
Nochmal Hadayatullah Hübsch
Hadayatullah
starb am 4. Januar 2011. Ich habe noch einige Brief und Texte von ihm, die ich
auf diesem Wege veröffentlichen möchte. H. hatte ein geistliches Amt in der
Reform-Bewegung Ahmadiyya Muslim Jamaat
inne. Er war ein gläubiger und sehr gebildeter Muslim, der jederzeit zum Dialog
mit Andersgläubigen bereit war. Umgekehrt hatte er mit Vorurteilen zu kämpfen.
Ende 2009 schickte er mir einen Brief, weil ein Veranstalter in Wilhelmsburg
eine Lesung mit ihm absagte. „Lieber
Raimund“, schrieb Hadayatullah, „Dein
Bekannter von der „stadtmission“, der die Lesung mit mir veranstalten wollte, hat mir vor ein paar Tagen eine email
geschickt, in der er die Lesung absagte. Die Begründung habe ich nicht genau
verstanden, irgendwie passt irgendwelchen Leuten meine Religion nicht. Dabei
ging es bei der Lesung doch um Beat und nicht um Predigten“. Damals hatte ich für H. eine Lesung im
Wilhelmsburger WESTEND vereinbart (das zur Stadtmission gehört). Der damalige
Leiter des Westend, A.D., bekam jedoch plötzlich kalte Füße, weil er Ärger mit
Moslems befürchtete, die nicht zur Ahmadiyya-Richtung gehörten. Als Ausweichort
versuchte ich das Alter-nativ-Cafe „sweet
home“ zu gewinnen. Die Inhaberin
lehnte jedoch ab, weil der Ahmadiyya-Islam „frauenfeindlich“ sei. So führten
wir die Lesung in meiner Werkstatt durch. * Hadayatullah war ein Dichter und
Kämpfer, der sich im Alltag für seine Ideen, Ziele und die ihm anvertrauten
Menschen einsetzte. Zur Not auch vor Gericht. Er schickte mir die Kopie eines „Versäumnis-Urteils“ des Landgericht
Frankfurt. In dem Rechtsstreit der Ahmadiyya Muslim Jamaat und Hadayatullah H.
gegen die Verlags-Gruppe B.Z.Ullstein GmbH wurde letzterer untersagt, weiterhin
zu behaupten, a) H.H. propagiere die „leichte Züchtigung der Frau“ und b) Ahm.M.J. befürworte die körperliche
Züchtigung der Frau“. * Hadayatullah hat die Ablehnung, erst durch eine
ev.-christliche Einrichtung, dann durch ein sog. „Alternativ“-Cafe gekränkt.
Ich persönlich empfand die Ablehnungen als Ausdruck von Opportunismus und
Scheinheiligkeit. Ich meine: So etwas kann heutzutage in diesem Stadtteil jederzeit wieder passieren. Die meisten Leute und staatliche Institutionen sind nicht in
der Lage, von außergewöhnlichen Menschen Impulse, Ideen und Ratschläge
anzunehmen. Was nicht mit dem Mainstream kompatibel ist, wird ausgegrenzt. *
Wie
verschieden, fast schon gespalten, die zwei Seiten Hadayatullahs waren, kommt
m.E. in dem folgenden Gedicht zum Ausdruck, mit dem er weder missionieren noch
religiöse Diskurse initiieren möchte. Es
wurde Für Florian und Bouchra am 20.2.2007 um 18 Uhr 45 geschrieben und
heißt
In der Bar
Die
roten Ledersitze schwitzen,
Countdown-Song:
„Paß auf, die Welt
Ist
hinter dir her“ und schwer
Fallen
die Tropfen in die Gläser
Augen
toter Junkies zittern in den
Aschenbechern
dieser erloschenen
Sonnen
das Kopfsteinpflaster draußen
Mürbe
getreten von heiligen Barbaren,
Im
Schirm das Jaulen einer verzogenen
U-Guitarre,
deren Saiten Salzstangen
Gleichen,
wir machen die Rechnung
Ohne
den Schenken, wir trinken das
Blut,
das aus unseren Füllfederhaltern
Gemolken,
wie Gäste, in deren Gliedern
Rastlosigkeit
tätowiert, bis alle
Herzen
einen Knacks haben, oh Funke!
Hadayatullah Hübsch
That’s BEAT! *R.S.*
Wilhelmsburg: SCHLIMM ! (2)
Christoph von Savigny, Redakteur des Wilhelmsburger Wochenblatts, versteht
es, auf die Tränendrüse zu drücken. Echt SCHLIMM,
was er diesmal herausgefunden hat. Unsere Deichwacht, ohne die der
Stadtteil längst Wasserwüste wäre, ist angeblich völlig verarmt. Es gibt für
sie „Keinen Cent“ (Überschrift). Beim Lesen des Artikels wird dieser herzerweichende Tatbestand dann 1 bisserl relativiert: Für die Jubiläumsfeier zum 50-jährigen Bestehen bekam die
Deichwacht bisher „nur“ insg. 2000 € von den Bezirksversammlungen Harburg und
Mitte. Es sollen 190 Personen verköstigt werden. Da bleiben „nur“ gut 10 € pro
Person. Dafür bekommt man heutzutage ja kaum noch ne trockene Scheibe Brot,
ODER?! Bei den Lebensmittelpreisen! Ach ja, „eine Kapelle“ soll auch noch gemietet werden. Musik und so. „Wie es aussieht, müssen wir den Kaffee
selbst bezahlen“, meint der Ortsbeauftragte der Deichschutzeinrichtung. SCHLIMM! Mir kommen die Tränen; heiß
rinnt es mir die Backe hinunter... Vor allem, wenn ich weiterlese, daß die rund
5o Helfer alle „ehrenamtlich“ seien;
und für ihre Einsätze (z.B. regelmäßige Katastrophen-Übungen) „nur“ 2,05 € pro
Stunde bekommen - die demnächst auf 3 € aufgestockt werden. „Ehrenamtlich“??? ... Klar bin ich auch für die Deichwacht, die nun
Sponsoren sucht. Ich hab ne Idee. Als erstes würde ich den Wochenblatt-Autor C.v. Savigny um eine Spende bitten. Schließlich verdient er an
seinem Artikel bares Geld. Sozial wie er ist, gibt er bestimmt etwas ab.
Zweiter Tip: Bei der Honigfabrik fragen. Die haben jede Menge Knete. Drittens:
Beim Bürgerhaus vorstellig werden. Die gehören wie u.a. die HoFa zu den privilegiertten
Einrichtungen auf der Elbinsel. Auch wenn die B.H.-Leiterin gern so tut, als
müsste sie betteln gehn. Das Wochenblatt stellte
vor einiger Zeit eine Menge Platz zur Verfügung, um auf die angeblich
existenzbedrohende Situation der Einrichtung hinzuweisen. Und siehe da: das
Jammern half! * Und wenn alles nichts nützt, darf sich der Ortsbeauftragte des
Deichschutzes gerne bei mir melden. Dann kann ich ihm erzählen, mit welchen
Spenden- und sonstigen Geldern ein seit 23 Jahren in diesem Stadtteil aktiver
Verein auskommen muß. Ich wette, das interessiert den Mann garnicht. * Mitte Dezember erscheint die nächste Ausgabe
des W.I.R. (Wilhelmsburger
Insel-Rundblicks). Die werden auch nen dollen Artikel bringen, schätz ich
mal. *RS*
Matussek in Wilhelmsburg (mittenmang)
Das
war, endlich wieder mal, ein Nachmittag nach meinem Geschmack. Matthias
Matussek las im mittenmang und
stellte sein neues Buch „Die Apokalypse
nach Richard – Eine festliche Geschichte“ vor. Sehr gekonnt der Vortrag,
literarisch ausgetüftelt die Story: Eine Kreativ-Reise durchs Genre der
Weihnachts-Erzählung, gut erfunden mit (starken) autobiografischen Bezügen. Am
Tisch auf dem kleinen, schwarz ausstaffierten Podium im Restaurant am
Stübenplatz saß ein Profi, dem es sichtlich Vergnügen bereitete, aus seinem
Selbstgeschriebenen vorzutragen. Er tat dies mit kräftiger Stimme, immer wieder
mal mit einer Hand ausholend, emphatisch. Meine Augen waren 83,7 %-ig beim Vortragenden und zu ca. 11,26 % bei
meinem Nachbarn Dietmar, der mit
flinker Hand den Dichter porträtierte. Dadurch wurde alles noch intensiver und spannender. * Ich war ein wenig
auf das Katholische fixiert (jemand sagte mir, der Autor sei engagierter
Kathole), aber um den rechten Glauben drehte es sich gar nicht. Es ging wohl um
ein gewichtiges Thema, das jedoch mit viel Humor und guter Laune gestaltet
wurde. * Witzig war auch, daß von der Hintergrund-Deko: Große schwarze
Buch-staben, die das Wort mittenmang bildeten,
nach und nach Teile umkippten, die beiden t’s
und das e nämlich. Das rührte wohl
vom Temperament des Vortragenden, der die Sprache selber zum Kippen brachte. * Ich wünsche mir für Wilhelmsburg mehr
solcher highlights. Hier ist künstlerisch und kulturell tiefste Provinz. Daran
ändern auch die Millionen von IBA und igs nichts. Einzelne Menschen sind’s, von
denen Impulse und Ideen ausgehen. + zu denen zählt auch Buchhändler Lüdemann,
der den Nachmittag organisierte. **R.S.**
Dienstag, 27. November 2012
J. Dahmer und T. Bundy: Nichts Neues vom SPIEGEL
Angeblich
stehen Forscher kurz vor der Entdeckung des Schlüssels zum Verständnis und zur
Be-handlung von Psychopathen. Autor Thadeusz
benutzt die Beispiele der Massenmörder Jeffrey
Dahmer und Ted
Bundy, um auf drei Seiten im neuen SPIEGEL nichts Neues über die Genese von Psychopathen zu sagen. Bereits 1913
erschien Karl Jaspers seinerzeit
bahnbrechendes Buch „Allgemeine Psychopathologie“. Seither haben tausende
Psychiater, Kriminologen, Pädagogen, Geistes- wie Naturwissenschaftler,
Persönlichkeitsforschung betrieben und zweifellos wichtige Tatbestände und
Kausalitäten untersucht. Auch die Bedeutung des (Augen-)Kontakts zwischen
Mutter bzw. primärer Bezugsperson und Kind bzw. Säugling ist seit vielen
Jahrzehnten bekannt, mithin psychologische Binsenweisheit.
Persönlichkeitsstörungen und –defekte von Serienkillern wie Dahmer und Bundy
über Begriffe wie „dissozial“ oder „Psychopath“ erklären zu wollen, ist wenig
hilfreich. * Interessant wäre, den Ansatz des austral. Psychologen Dadds mit den Mitteln der neurophysiologischen Forschung fortzuführen
und zu untersuchen, inwieweit bestimmte
Mängel und Verhaltensdefizite der primären Bezugspersonen gehirnorganische Änderungen bei
Säuglingen und Kindern hervorrufen. Alles andere, d.h. eine nicht naturwissenschaftliche Forschung
dreht sich im Kreis und wiederkäut nur längst bekannte Tatsachen. * Autor
Thadäusz nimmt in oberflächlichster
Weise zwei extrem gefährliche Persönlichkeiten als Aufhänger + verschweigt bekannte Tatsachen, mit denen man die
Verbrechen ein Stück verstehen (was nicht „akzeptieren“ bedeutet) könnte. Ted Bundy erfuhr mit Anfang 20, daß
seine angeblich ältere Schwester in
Wahrheit seine Mutter, seine angebl. Eltern in Wahrheit Großeltern und seine angebl. Geschwister in Wahrheit höchstens Halb-Geschwister bzw.
noch weiter entfernt verwandt mit ihm waren. So etwas kann kein Mensch auf
dieser Erde unbeschadet verkraften. Entweder er wird depressiv oder
„geisteskrank“. Dies würde wohl den meisten so gehen. Oder – im Fall Bundy – er
reagiert aggressiv, mit Rache-Bedürfnis.
B. hatte niemanden, der ihm half, das neue ungeheuerliche Wissen zu
verarbeiten. Diese extreme Erfahrung reicht nicht, um die Killer-Karriere B’s
schlüssig zu erklären. Sie ist aber EIN Mosaikstein bzw. EIN Schlüssel zum
Verständnis. Jede menschliche Persönlichkeit, auch die eines Massenmörders, ist
viel zu komplex, als daß sie mit einer mathematischen oder chemischen oder
sonstigen Formel aufgeschlüsselt werden könn-te. SPIEGEL-Autor Thadeusz hingegen suggeriert mit seinen
Ausführungen, es gebe solche Schlüssel oder Formel. *R.S.*
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